Ein offener Brief an die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Debatte über das Verhältnis von Antisemitismus und der Kritik an der israelischen Siedlungspolitik neu angefacht. Die 60 deutschen und israelischen Intellektuellen, die den Brief im Berliner "Tagesspiegel" und der "Jungen Welt" veröffentlicht haben, drücken ihre Sorge über die Annexion des Westjordanlandes aus und kritisieren den "inflationären, sachlich unbegründeten und gesetzlich unfundierten Gebrauch des Antisemitismusbegriffs, der auf die Unterdrückung legitimer Kritik an der israelischen Regierungspolitik zielt".
"Reflexartige Vorwürfe"
Ganz konkret greifen sie auch den namentlich nicht genannten Beauftragten der Bundesregierung für Antisemitismus, Felix Klein, an. Als Beispiel nennen sie die von der deutschen Regierung geförderten Publikation "Der neu-deutsche Antisemit" von Arye Sharuz Shalicar, der seit 2017 in der isrealischen Regierung die Abteilung für internationale Beziehungen leitet. Shalicar führte in dem bereits 2018 erschienenem Buch unter anderem den Historiker Reiner Bernstein als Beispiel an, der sich nach Meinung der Briefschreiber für eine friedliche Lösung des Israel-Palästina-Konflikts einsetzt. "Wir fragen uns, welchen Kräften im heutigen Israel die Unterstützung der Bundesregierung gilt", heißt es gegen Ende des Briefes. Mit der Förderung israelischer rechtspopulistischer Positionen würde geduldet, "dass Stimmen des Friedens und des Dialogs diffamiert und mundtot gemacht werden." Unterzeichnet wurde der Brief unter anderem von den sächsischen Autoren Christoph Hein und Ingo Schulze, dem Historiker Moshe Zimmermann, dem Antisemitismusforscher Wolfgang Benz und der Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann.
Auch der Anwalt und Drehbuchautor Fred Breinersdorfer, einer der Unterzeichner, kritisierte im Gespräch mit MDR KULTUR die Annexion des palästinisch besiedelten Westjordanlandes durch Israel als völkerrechtswidrig und beklagt, dass es bei dieser Kritik "reflexartig den Vorwurf des Antisemitismus" gäbe. Für Breinersdorf zielt der Fall Bernstein auch auf die Meinungsfreiheit, denn den Historiker als Antisemiten zu bezeichnen, falle laut eines Gerichtsurteils unter Artikel 5, GG und "dann müssen sich umgekehrt auch die Kritiker Israels, wohlgemerkt nicht den Kritikern des Judentums, frei von Beeinflussung und Diffamierung äußern dürfen". Der momentane Umgang mit dem Antisemitismus-Begriff mache es unmöglich, die Siedlungspolitik so zu kritisieren, dass die israelische Regierung sie auch hört, meint Breinersdorfer. Da Deutschland momentan die EU-Ratspräsidentschaft und den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat innehat, fordern die Unterzeichner von der Bundesregierung, mehr Verantwortung zu übernehmen.
Man kann bei der deutschen Regierung immer wieder beobachten, dass gegenüber Israel Menschen- und Völkerrechtsverletzungen mit erheblich geringerer Schärfe kritisiert wird als bei Russland oder China.
August 01, 2020 at 09:00AM
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Nach offenem Brief: Ist Kritik an Israel automatisch antisemitisch? - MDR
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